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Wie werde ich Chorsänger:in?

Chorgespräch

Ein Interview mit vier Sänger:innen des Stuttgarter Opernchores:
Laura Corrales (Sopran I), Cristina Otey (Alt I), Anna Matyuschenko
(Sopran II) und Ulrich Wand (Bass I)

Worin liegt der Unterschied zwischen Chorsingen und solistischem Singen? Was muss Ihre Stimme können?

Man muss in erster Linie mit den anderen Stimmen auskommen. Es geht nicht um das Brillieren der einzelnen Stimme, vielmehr soll jede und jeder gehört werden. Es ist wichtig im Chor, dass man sich zurücknehmen kann und dass man sauber singt. Chorsänger:innen müssen alle Musikstile beherrschen; manchmal muss man schmal singen, auch mal richtig voll, auch mit mehr oder mit weniger Vibrato.

Worin liegen die Schwierigkeiten?

Während der Ausbildung lernt man zwar alles über die stimmliche Technik, die man jeden Tag bei den Proben und in den Vorstellungen braucht. Aber man lernt beispielsweise nicht, geduldig zu sein. Chorsingen ist eine Arbeit, für die man unglaublich viel Geduld braucht. Es gibt sehr lange Wartezeiten (z.B. auf die Einsätze oder wenn nur die Männer, nur die Frauen oder nur die Solist:innen singen) und man muss trotzdem immer konzentriert bleiben. Es ist auch nicht leicht, Tag für Tag mit vielen Menschen auf engem Raum zusammenzuarbeiten und mit ihnen auszukommen. Für viele ist das eine große Herausforderung, denn es ist z.B. immer auch sehr laut. Das sind Dinge, die weiß man als Berufsanfänger:in noch nicht. Und dann natürlich die Kondition: Oft müssen wir morgens drei Stunden und abends drei Stunden proben oder eine Vorstellung singen. Dabei muss man lernen, seine Energie einzuteilen und mit der eigenen Stimme richtig umzugehen. Das lernt man erst im Arbeitsalltag.

»Die Musik erwacht beim Chorsingen zum Leben, ist nicht mehr nur Noten auf dem Papier, sondern wird zur Kunst.«

Was ist das Spannende?

Es gibt so viele spannende Aspekte! Zum Beispiel hat man täglich Menschen unterschiedlichster Nationalitäten um sich. Aber das Spannendste ist natürlich die Musik. Die Musik erwacht beim Chorsingen zum Leben, ist nicht mehr nur Noten auf dem Papier, sondern wird zur Kunst. Auch die Arbeit mit verschiedenen Dirigent:innen ist spannend, manche können sehr gut auf die einzelnen Chorsänger:innen eingehen, andere schauen einen nicht einmal an und geben keine Einsätze. Unseren Chor zeichnet aus, dass jeder Einzelne größte Anforderungen an sich selbst und an das Kollektiv stellt. Man möchte stetig wachsen. Alle versuchen, sich ständig zu verbessern.

Wie läuft der Probenprozess ab?

Die szenischen Proben beginnen circa sechs Wochen vor der Premiere. Die musikalischen Proben beginnen natürlich viel früher, manchmal bis zu einem Jahr vor der Premiere. Im Idealfall können wir das Stück bereits auswendig, wenn wir zur ersten szenischen Probe gehen. Dann gibt es natürlich noch die sogenannten Sitzproben, in denen Sänger:innen und Orchester erstmals gemeinsam musikalisch proben, und schließlich die erste von drei Endproben, die sogenannte Klavierhauptprobe. Das ist die erste Probe in Originalkostüm, Originalmaske und mit Originalbeleuchtung. In dieser Probe wird man noch nicht vom Orchester, sondern nur vom Klavier begleitet. Dann folgen die Bühnenorchesterproben und schließlich die Orchesterhauptprobe und eine Generalprobe, die fast wie eine Vorstellung ist. Hier wird auch die Applausordnung geprobt. Nach jeder großen Probe gibt es Kritik von der Regie, von den Chorleiter:innen und Dirigent:innen. Manchmal gehen wir mit einer ganzen Liste von Kritikpunkten nach Hause. Die letzten zwei Wochen vor der Premiere sind die anstrengendsten während der ganzen Proben- und Vorstellungszeit. Wer das alles durchhält, kann den Beruf ausüben.

Anders als z.B. ein Kirchenchor stehen Sie ja nicht statisch auf der Bühne, sondern agieren auch in einer Inszenierung. Sind schauspielerische Fähigkeiten notwendig?

Ja, schauspielerische Fähigkeiten sind im Opernchor ungemein wichtig, und man braucht zumindest eine Grundausbildung dafür. In Deutschland ist das auch ein Studienfach während der Gesangsausbildung. Der Stuttgarter Opernchor ist dafür bekannt, dass er gerne spielt. Er wurde ja sogar in der Autor:innenumfrage der Deutschen Bühne von einem Autor in der Rubrik »Beste schauspielerische Leistung« nominiert. Inszenierungen, in denen der Chor nur als Bühnenbild benutzt wird und wir z.B. mehrere Stunden einfach nur herumstehen müssen, sind extrem unbefriedigend.

Wenn Sie Kritik an einer Regieanweisung anmelden möchten, geschieht das dann einzeln oder im Kollektiv?

Unsere Meinung ist erst einmal zweitrangig. Aber wenn es zum Beispiel um drastische Gewaltszenen geht, kann man schon sagen, dass man das so nicht machen möchte. Das Schöne an unserem Opernchor ist, dass sich immer jemand aus den eigenen Reihen findet, der dann einspringt.

Sie müssen ja, wie heute Abend bei »Tosca«, auch in anderen Sprachen singen. Wie erarbeitet man sich ein Werk, wenn man die Sprache nicht beherrscht?

Bei »Tosca« ist das nicht das Problem, denn als Chorsänger:in ist man sehr oft mit der italienischen Sprache in Kontakt. Wenn man aber die Sprache überhaupt nicht beherrscht, erarbeitet man sich den Text phonetisch. Es gibt aber auch speziell ausgebildete Sprachcoaches, die den Sänger:innen zur Seite stehen. Das Auswendiglernen nimmt dann wahnsinnig viel Zeit in Anspruch.

Wie verteilen sich die Soloparts? Kommt jeder mal dran, oder sind das immer dieselben?

Das ist ein heißes Thema. In unserem Opernchor ist fast jeder in der Lage, Soli zu singen, aber es gibt nie genug Rollen. Man hat keinen Anspruch darauf. Kleinere Unstimmigkeiten gibt es deshalb natürlich öfter, aber die werden immer gelöst.

Wie viele Mitglieder hat der Stuttgarter Opernchor?

76 Chormitglieder inklusive Aushilfen. Ein paar mehr Frauen als Männer gibt es.

Werden immer alle Sänger für alle Werke eingesetzt?

Das ist sehr unterschiedlich: Es gibt große Opern, da sind alle dabei oder es werden sogar noch Sänger:innen aus dem Extrachor dazu geholt. Es gibt aber auch kleine Opern, wo nur die Hälfte aller Sänger:innen dabei ist, und Opern ganz ohne Chorbeteiligung.

Wie muss man sich die Strukturen in einem Chorkollektiv vorstellen?

Es gibt den oder die 1. und 2. Chordirektor:in, eine:n Chorassistent:in, der die Probenarbeit begleitet sowie ein:e Chorinspizient:in. Und dann eben die 76 Chorsänger:innen mit dem Chorvorstand, aktuell bestehend aus drei Kolleg:innen.

Ein Chor basiert ja gewissermaßen auf Gleichheit, alles muss eine Einheit ergeben. Steckt man da mit seiner Individualität nicht zurück?

Nicht, was das Spielerische anbelangt! Hier ist es oft sehr gefragt, wenn man eine starke Persönlichkeit ist. Beim Singen dagegen muss man sich schon zurücknehmen. Wer im Chor singt, ist keine Einzelpersönlichkeit, sondern eine neben vielen anderen, die zusammen diesen wunderbaren Klang hervorbringen. Wenn man beim Singen in der Vorstellung in einer Szene ganz vorne am Bühnenrand agiert, trägt man selbst die Verantwortung dafür, leiser zu singen, damit sich die Stimmen vorne auch mit den Stimmen der hinteren Reihen mischen. Die Stimmen im hinteren Bühnenteil dürfen dann dafür etwas mehr geben.

erschienen in junge bühne Nr. 7